Abgrundtief

Ich war felsenfest davon überzeugt, dass unsere Kapitänin ein falsches Spiel spielt. Zu sorglos ging sie mit unserem Treibstoffvorrat um, zu merkwürdig kamen mir einige ihrer Entscheidungen vor. Gut, dass ich einen Prozess in Gang setzen konnte, durch den sie abdanken musste. Und das wichtigste Amt an Bord ging an mich über. Verhindern konnte ich so aber nicht, dass unsere S.S. Atlantica letztlich manövrierunfähig wurde. Tatsächlich war es der fehlende Treibstoff, der uns kentern ließ. Die Monster indes, die regelmäßig unser Deck enterten, hatten wir recht gut im Griff. Dass aber gar nicht unsere Kapitänin, sondern eine ganz andere Person ihre fiesen Finger im Spiel hatte, damit hätte ich nicht gerechnet.

„Social Deduction“ ist ein Genre, dass auf dieser Seite etwas zu kurz kommt. Zumal es nicht unbedingt zu meinem favorisierten Genre gehört. An dem zweifelsohne unumstrittenen Genreprimus „Battlestar Galactica“ habe ich mich versucht, allerdings mit wenig Spaß an der Sache. Nun gut, Lovecraft statt Sci-Fi, das wird wohl besser gehen. Und ich sollte recht behalten. Denn im ganz besonderen Setting auf dem Schiff im Jahr 1931 im Universum von Cthulhu und Co. reißt mich die Geschichte um Verrat und Loyalität deutlich mehr mit.

Wir bewegen uns über das Schiff und nutzen die Aktionen der Räume.

Wir gehören zur Crew der S.S. Atlantic und haben jeweils eine besondere Fähigkeit. Mein Charakter, William Bowleg, ist zauberkundig und der Buchwächter an Bord. Unter uns Menschen befindet sich aber ein Hybrid, der es gar nicht gut mit Crew und Passagieren meint. Und natürlich lauert die Gefahr nicht nur an Deck, sondern auch in den Tiefen, denn die Schrecken der Meere und ihre beiden Monarchen wollen uns in den Abgrund ziehen. Um das zu verhindern, suchen wir Räume auf, führen dort Aktionen aus und tun möglichst alles, um unser Schiff am Laufen und die Passagiere am Leben zu erhalten. Der ein oder andere Kampf gegen die Schergen des Bösen steht auch an. Überhaupt heißt es ständig, Nahrung und Treibstoff im Blick zu haben und dabei nicht dem Wahnsinn anheim zu fallen, einem grundlegenden Element in den Werken und Spielen im H.P. Lovecraft Universum. 

Schrecken der Meere haben sich auf unser Schiff geschlichen. Gut ist das nicht!

Kernelement jedoch sind die Entscheidungen, die getroffen werden müssen. Hier fällen wir gemeinsam Entscheidungen, die verschiedene Ausgänge zur Folge haben. Mal passiert etwas Gutes, zum Beispiel können wir Schrecken zurück ins Meer befördern, meist jedoch hat alles immer auch eine negative Konsequenz. So steigt der Druck kontinuierlich und es wird von Runde zu Runde schwieriger, den Kahn sicher Richtung Hafen zu schippern. Zumal viele der Entscheidungen und Auseinandersetzungen mittels Karten entschieden werden, die wir auf der Hand haben. So braucht man eine bestimmte Anzahl Symbole, um zum Beispiel erfolgreich einen Angriff abzuwehren. Nun wäre es ja fatal, wenn einer der Mitspieler uns eben nicht in die Karten spielt, sondern wertvolle Karten zurückbehält oder gar unnütze Karten in die Runde wirft. So scheitert vielleicht, was schon sicher geschafft zu sein schien. Und da man in der Regel nicht weiß, wer welche Karte beigesteuert hat – zumal auch noch zwei Karten vom allgemeinen Stapel verdeckt beigemischt werden – dauert es nicht allzu lange, bis wilde Verdächtigungen die Runde machen. Und dann entwickelt „Abgrundtief“ seinen vollen Reiz. Je mehr mitspielen, umso besser. Auch absolut Unschuldige, wie die Verfasserin dieses Textes, sehen sich mangels passender Handkarten nach einer Aktion übler Verdächtigungen ausgesetzt. Es macht einen Heidenspaß, die Aktionen der vermeintlichen (Mit)Menschen mit Argusaugen zu betrachten. Dabei muss man aber auch abkönnen, sich vielleicht den Argwohn einer gesamten Spielrunde auf sich zu ziehen.

Letztlich gilt aber für „Abgrundtief“ genau das, was für alle Spiele im „Social Deduction“-Genre gilt. Es macht Spaß mit einer großen Runde und nur dann, wenn sich alle auf ihre Rollen und das Spiel mit dem Ver- oder Misstrauen einlassen. Denn eine Runde kann durchaus eine Weile dauern, aber auch verdammt spannend sein. Bei uns war der sichere Hafen übrigens schon in Sichtweite, bevor uns der Treibstoff ausging. Und unsere Kapitänin? Die schaute am Ende ebenso wie die meisten von uns bedröppelt, aber unschuldig aus der Wäsche.

Abgrundtief von Tony Fanchi
Fantasy Flight Games
Für 3 bis 6 Spieler
Dauer: variabel
Preis: circa 70 Euro