Crystal Palace

Wenn meine gestandene Mittwochsrunde angesichts der anstehenden Neuerwerbung ins Schwitzen kommt, dann muss da schon was Opulentes auf dem Tisch liegen. Und tatsächlich erschlägt einen Crystal Palace von Carsten Lauber erstmal schier mit seinen Möglichkeiten. Da den Überblick zu behalten ist scheinbar gar nicht so leicht. Dann aber am Ende des Tages doch nicht so schwer, wie befürchtet.

Das Spiel entführt uns in ein Zeitalter, in dem Erfindungen nahezu am Fließband produziert wurden und teils abstruse Projekte in den Laboren und Werkstätten der Welt entstehen sollten. Um solche Erfindungen geht es, denn wir schicken uns an, als eine von zehn Nationen nicht nur die Welt in Staunen zu versetzen, sondern auch massig Siegpunkte einzusacken. Und dafür bedarf es eben genau der richtigen Erfindung zum passenden Zeitpunkt.

Wir sind Teilnehmer an der Weltausstellung 1851 in London. Der Namen gebende Crystal Palace war ein Gebäude, das Joseph Paxton eigens für das große Ereignis entwickelte. Selbstredend kommt jener Kristallpalast dann auch in der Kartenauslage vor und sein Erfinder findet sich ebenfalls im Spiel wieder. Rechtzeitig zwei Jahre vor Beginn des großen Ereignisses haben wir unseren Koffer gepackt und jetzt stehen wir da in der englischen Metropole mit wenig Geld, wenig Ressourcen und – seien wir ehrlich – so gut wie keinem Plan.

Was wir als ausgebuffte Spieleprofis aber wissen: wer produktiv sein will, der braucht Zeit, Geld, Ressourcen, Mitarbeiter, Ansehen und das nötige Quäntchen Glück. Alles Elemente, die sich in den insgesamt acht Tableaus wiederfinden, auf denen wir unsere Würfel einsetzen dürfen. Denn Crystal Palace ist ein auf den ersten Blick klassisches Workerplacement-Spiel. Nein, das ist jetzt kein Grund zu gähnen und das Spiel als wenig innovativen Klon großer Vorbilder abzustempeln. Denn der kleine, aber feine Kniff an der Sache, ist die Wahl der Würfelaugen. Denn anders als in den bekannten Genrevertretern darf man die Augenzahl der Würfel selbst bestimmen. Die Krux – hohe Augenzahlen kosten mehr. Und Geld ist äußerst knapp bemessen. Da macht der Sprung von einer Vier auf eine Sechs im Zweifel schon eine Menge aus. Der Spieler mit der höchsten Augenzahl wird Startspieler und kann sich die besten Plätze sichern. Der mit der geringsten Augenzahl geht nicht leer aus und bekommt zum Trost eine Zeitung (was mir als Journalistin ein kleines Tränchen der Rührung abgerungen hat). Oftmals ist eine passable Taktik, abzuwarten, was die anderen machen, um dann mit wenig Mitteln das Beste aus der aktuellen Runde zu holen und sich für den Folgenden der insgesamt fünf Durchläufe eine bessere Ausgangslage zu sichern.

Das Material ist hochwertig und der Mechanismus ausgereift. Mit der Möglichkeit, die Augenzahl selbst zu bestimmen, kommt ein frisches Element in den Spielablauf.

Der Ablauf ist zunächst verwirrend, geht aber schnell in Fleisch und Blut über. Würfel wählen, Würfel einsetzen, hoffen einen der freien Plätze zu ergattern und schließlich den entsprechenden Bonus, eine Patentkarte oder einen Erfinder abzustauben. Dazu kommen die Worker, die ebenfalls durch Würfeleinsatz freigeschaltet werden und zum Beispiel auf dem Schwarzmarkt auf die Jagd nach Ressourcen gehen. Aber Vorsicht – ist der Schwarzmarkt überlaufen, kann es schnell passieren, dass dieser gesprengt und alle Worker von ihren vermeintlich lukrativen Plätzen verjagt werden. Letztlich zielt alles darauf ab, Patente in Prototypen zu verwandeln. Wer wollte nicht immer schon mal ein „Blitzdingsbums“ auf den Markt bringen. Oder aber  meinen persönlichen Liebling – den „Bierglaszähler“. Und mit dem „Klimawandler“ hält das Spiel sogar eine Erfindung für die Fridays-for-Future-Generation bereit.

Crystal Palace bietet eine Reihe variabler Elemente. Das beginnt schon damit, dass jedes Land eigene Sonderaufträge bereithält. So muss der Japaner zum Beispiel weitere Würfel kaufen, der Amerikaner eine bestimmte Einkommensstufe erreichen. Auf den Plateaus gibt es wechselnde Boni, die teilweise in jeder Runde neu gezogen werden und hat man sich einen besonderen Ruf erarbeitet, kann man ebenfalls auf einer separaten Leiste die ein oder andere Glühbirne oder einen zusätzlichen Einkommensschritt absahnen. Das lohnt sich, denn Glühbirnen und Zahnräder braucht der clevere Erfinder, um seine Patente zum Prototypen umzuwandeln. Und auf der Einkommensliste sollte man immer ein wenig vorrücken, denn am Ende jeder Runde fallen alle Mitspieler um drei Schritte. Auch das Einsetzen von Workern kostet Geld und wer unklug plant, für den fällt sein Würfeleinsatz auch noch einmal mit Minusbeträgen ins Gewicht.

Chronisch pleite und Spaß dabei? Auch das geht, kann man doch jederzeit Kredite aufnehmen. Allzu oft sollte man aber nicht zu dieser Notlösung greifen, denn Kredite bringen reichlich Minuspunkte. In unserer Runde hat es der vermeintlich Führende geschafft, in der Endabrechnung noch auf den vorletzten Platz zu rutschen, weil er allzu unachtsam Schulden angehäuft hatte.

Ruf sollte nicht vernachlässig werden. Wer bekannt ist, erhält Boni.

Und genau da kommt eine Stärke des Spiels zum Tragen. In jeder Spielerunde gibt es ja deinen einen, der schon gefühlt nach fünf Minuten mault, dass er uneinholbar abgeschlagen ist. Crystal Palace ist fordernd, aber verzeiht auch Fehler. Das Glücksmoment ist vorhanden, aber überschaubar und jeder hat es jederzeit in der Hand, selbst aus schlechten Voraussetzungen das Beste zu machen. Das klappt aber nur, wenn man alle Möglichkeiten jederzeit im Blick behält. Dafür braucht es eine Menge Hirnschmalz und volle Konzentration. Crystal Palace ist ein Brett von einem Spiel, keine Frage. Aber eines, das man gerne immer und immer wieder spielt, um andere Strategien zu testen. Den einen Weg zum Ziel gibt es nicht, die Dynamik ist enorm.

Neben der tadellos funktionierenden Mechanik überzeugt auch das Material. Dass eine Spielanleitung aus dem Verlag Feuerland aus hochwertigem Papier ist und mindestens einmal auch beim Aufbau gebastelt werden darf, das kennt man ja bereits. Die Qualität ist hervorragend, auch inhaltlich. Zu jeder Erfindung und zu jedem Erfinder gibt es auf der Rückseite weitere Informationen. Die sollte man dann allerdings nach dem Spiel in Ruhe lesen. Zu sehr brütet man während der Runde über den nächsten Aktionen. An der ein oder anderen Stelle ist die Anleitung ein wenig ungenau und es entbrannten Diskussionen, wie ein Symbol genau zu verstehen ist. Der Kritikpunkt ist aber zu verschmerzen, zu gut ist der Gesamteindruck. Crystal Palace ist so ein Spiel, bei dem man nach dem ersten Durchspielen froh ist, es überhaupt geschafft zu haben. Um es dann gar nicht erwarten zu können, erneut loszulegen. Und vielleicht schaffe ich es dann auch endlich einmal, den ersehnten „Bierglaszähler“ zu bauen. Das war mir bisher noch nicht vergönnt.

Crystal Palace von Carsten Lauber

Feuerland

2 bis 5 Spieler

Dauer circa 90 Minuten

Preis circa 55 Euro